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Jahrhunderthochwasser 2038 – ein Gedankenexperiment Computer-aided Führungsstab im Katastrophenschutz – eine Vision

Andreas H. Karsten
(Erstveröffentlichung: August 15)

Heute möchte ich auf meinen Artikel „Jahrhunderthochwasser 2028 – ein Gedankenexperiment” im Brandschutz/Deutsche Feuerwehrzeitung 1/08 S. 42ff zurückkommen. Auch diesmal werde ich nicht alle Aspekte der Stabsarbeit, die für die Abarbeitung der beschriebenen Schadenlage notwendig ist, behandeln können. Ziel ist es wiederum den generellen Weg aufzuzeigen.

Ausgangslage

Das Frühjahr 2038 ist durch eine extreme Trockenperiode gekennzeichnet. Seit August kommt es im südöstlichen Deutschland und der angrenzenden Tschechischen Republik zu erheblichen Gewittern. Die Flüsse einschließlich der Elbe führen Hochwasser. Lokal treten aufgrund des Starkregens und der Sturmböen Verwüstungen auf. In der Nacht vom 13. zum 14. August 2038 zieht ein weiteres schweres Gewitter über die Region Dresden. Die Elbe und deren Nebenflüsse treten am frühen Morgen großflächig über die Ufer; teilweise aufgrund von Deichbrüchen. Mehrere Hauptverwaltungsbeamtinnen rufen den Katastrophenfall aus, darunter auch um 08:50 Uhr die Landrätin A. Der Führungsstab bildet zwei Einsatzabschnitte (Nord und Süd) und überträgt deren Führung den beiden kreiseigenen Technischen Einsatzleitungen. Um 08:55 (lediglich 5 Minuten nach dessen Einberufung) erklärt der Führungsstab nach dem Hochfahren der Computer und Kommunikationseinrichtungen die Aufnahme der Tätigkeit.

Tätigkeiten des S-2

Seit einige Zeit verfügt der Landkreis über ein integriertes Katastrophenschutz- Wissensmanagementsystem, das  „KatS-Lage-Web-Portal” (siehe z. B. http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/bY2xDoJAEET_6I4zNtpJaIyN2ig2ZIHl2HDckWXBxo93KeycTaaYN5m1L6sXYSUPQilCsE9bNnSs36YeV29manrkHknmKQUSGgxEj3USNIzQIld_Kvsq4qIIlk4YfKVrHWBPftAWRvvYvrZomhRRNtdQSN0zSGIzJZawkYVZiaHWlpkr8sxlP7nP4XIrdlen-Tm_22kcT1-p1Muj/), welches ein Gemeinsames Rollenorientiertes Einsatzlagebild (GREL) erzeugt. D. h. alle Informationen werden in ein System eingegeben, dass daraus die Lagedarstellungen (Lagekarten plus zusätzliche Informationen) für jede Funktion in den unterschiedlichen Führungsgremien einzeln angepasst zur Verfügung stellt. Mittels spezieller Algorithmen werden diese Lagedarstellungen im Laufe des Einsatzes weiter optimiert (siehe z. B. die Algorithmen von Google, Amazon usw.). Die Einsatzkräfte vor Ort geben ihre Erkundungsergebnisse mittels Tablet-PCs direkt in das System ein (siehe z. B. https://www.youtube.com/watch?v=mADTLY0t_eM). Neben diesen Informationen, den Lagemeldungen der Technische Einsatzleitungen sowie der Hochwassermeldestellen stehen weitere Quellen nach automatischer Aufbereitung dem S2 zur Verfügung (siehe z. b. Artikel zu Visual Analytics), u. a.:

  • Social Media
  • Bilder von Aufklärungsdrohnen
  • verschiedene Crowdmappings
  • Überwachungskameras
  • Verkehrsleitsysteme
  • GPS Daten des öffentlichen Nahverkehrs

Informationen werden auch automatisch vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), dem Deutschen Wetterdienst (DWD) und dem Geoinformationsdienst der Bundeswehr (GeoInfoDBw) übernommen.

Mehrere Prognoseprogramme liefern z. B. folgende Daten an den S3-Bereich:

  • Hochwasserentwicklung
  • Fluchtbewegung der Bevölkerung
  • Verkehrssituationen im gesamten Land Sachsen
  • Befahrbarkeit der durch den tagelangen Regen aufgeweichten Böden im Schadengebiet 

Die Daten werden in der Prognoselagekarte dargestellt (siehe „Aufgabenorientierte Lagedarstellung für Führungsstäbe”) sowie in die Simulationsprogramme des S3 übernommen.

Neben der Lagekarte stellt das System den Stabsmitglieder virtuelle, dynamische dreidimensionale Geländeansichten im Virtual Situation Room (siehe z. B. https://www.igd.fraunhofer.de/sites/default/files/Flyer_IET_Mobile%20SciVis_DE_web.pdf) zur Verfügung. 


Tätigkeiten des S-3 (einschließlich S1 und S4 {Ressourcenbereich})

Der S-3 Bereich ist in Planung und Durchführung aufgeteilt. Die Planungen der einzelnen Führungsgremien (Verwaltungsstab, Führungsstab, TEL, Einsatzabschnitte) sind entsprechend der Philosophie der vernetzen Einsatzführung miteinander verbunden. Der Landkreis favorisiert schon seit langem das Führen mit Auftrag und nutzt dezentrale, agile und selbstorganisierende Führungsstrukturen, um die Spontanhelfer in die staatliche Gefahrenabwehr effektiv einbinden zu können.

Der Planungsbereich nutzt seine Planungssoftware, die die unterschiedlichen Einsatzalternativen automatisch erstellt und die Folgen abschätzt. Dazu dienen folgende Tools:

  • Simulationsprogramme, die die Auswirkungen der unterschiedlichen Alternativen berechnen, z. B.: 
    • für die betroffenen Menschen,
    • für Tiere und die Umwelt
    • für die Wirtschaft
    • für das Ansehen Deutschlands in der Welt
  • KatSWiki, das Erkenntnisse aus vorherigen Katastrophenlagen beinhaltet
  • Ergebnisse des CrowdSourcings

Die benötigten Ressourcen der unterschiedlichen Alternativen werden mit den bundesweit zur Verfügung stehenden Ressourcen abgeglichen: 

  • Kapazitäten des Katastrophenschutzes, der Polizeien und der Bundeswehr sowie weitere staatlicher Behörden, die in einer bundesweiten Datenbank ständig aktualisiert vorliegen
  • Kapazitäten von Spontanhelfern (prognostiziert aus ehemaligen vergleichbaren Lagen)
  • Kapazitäten privater Unternehmungen, die im Internet entnommen sind

Wesentlich dabei ist die Berücksichtigung der Zeit, die vermutlich benötigt wird, um die Ressourcen an der Einsatzstelle zur Verfügung zu stellen.

Alle realisierbaren Alternativen werden der Einsatzleiterin in einem Lagevortrag zur Entscheidung vorgestellt. Entscheidungsparameter, die durch die Simulationsprogramme berechnet werden, sind unter anderem:

  • Ergebnis bei einer erfolgreichen Umsetzung des Einsatzplanes
  • Folgen eines Misslingens des Einsatzplanes
  • Wahrscheinlichkeit, dass der Einsatzplan erfolgreich umgesetzt werden kann
  • zeitliche Entwicklung der Flexibilität eines Einsatzplanes
  • Kosten der Umsetzung des Einsatzplanes 
  • Zeit der Umsetzung des Einsatzplanes

Nach dem sich die Einsatzleiterin für eine Alternative entschieden hat, werden die Ressourcen  automatisch durch den Computer bei den entsprechenden Stellen angefordert („automatisierter S1 und S4 Bereich”) sowie Befehle an die unterstellten Einheiten übermittelt. Der Bereich Durchführung übernimmt die Überwachung der Ausführung und ordnet ggf. kleinere Änderungen an. Auch ihm stehen umfangreiche Simulationsprogramme zur Verfügung.

Anforderung von überörtlicher Hilfe bzw. Amtshilfe (automatisierter S1 Bereich)

Rund um die Uhr stellen die unterschiedlichen Behörden für größere Einsätze Einheiten in der bundesweiten Datenbank zur Verfügung. Diese Einheiten werden, je nach eigener Lage, von den jeweiligen Behörden ergänzt, wenn sich eine Katastrophe irgendwo in Deutschland anbahnt bzw. nach deren Eintritt.

Diese Einheiten werden durch den Computer automatisch alarmiert, wodurch sich die Dispositionszeit deutlich verkürzt. Werden weitere Einheiten benötigt, sendet der Computer auf dem Dienstweg eine entsprechende Anforderung an die zuständige Behörden, die dann im Einzelfall entscheiden. 

Stand der Entwicklung

Die Programmierung der benötigten Software sollte kein Problem darstellen, da ähnliche Programme in anderen Bereichen bereits verwendet werden. Was fehlt ist die Modellierung von Katastrophenschutzeinsätze möglichst unabhängig von der Schadenursache. Und dann noch das notwenige Geld zur Entwicklung der Programme, denn junge intelligente Wissenschaftlerinnen stehen in Deutschland genügend zur Verfügung. 

Brauchen wir eigentlich noch Menschen im Stab?

Spinnt man die Gedanken weiter, so kann die Stabsarbeit zukünftig weitestgehend von Computern übernommen werden. Was bleibt dann noch für den Menschen? (Die gleiche Frage kann man stellen, wenn man bedenkt, dass die Hilfsmaßnahmen vor Ort vielfach von Robotern übernommen werden können?) 

Zum einen benötigen wir weiterhin Menschen als Back-Up-System. Technik kann jederzeit ausfallen und dann müssen die Katastrophenschutzbehörden weiterhin handlungsfähig bleiben. 

Computer können (derzeit noch?) einige Aufgaben schlechter durchführen als Menschen. 

Zum Beispiel das große Bild sehen, besonders die politischen Implikationen berücksichtigen. Daraus folgt für den Menschen, dass er stets das große Ganze im Auge zu behalten hat, sprich er hat die Funktion der Einsatzleiterin wahrzunehmen. 

Ebenso stark ist der Mensch beim kreativen Denken. Diese Fähigkeit ist besonders bei den Schwarzen-Schwan-Lagen von entscheidender Bedeutung. 

Des weiteren werden Fachleute benötigt, die verstehen, wie die einzelne Programme funktionieren, um sie zu überwachen und ggf. zu modifizieren. 

Und zukünftig wird es auch weiterhin immer Nischenbereiche geben, für die noch keine Programme entwickelt wurden. Treten Probleme in diesen Bereichen auf, wird auf menschliche Experten zurückgriffen werden müssen. 

Ein Blick zurück in die Zukunft

Vor 8 Jahren habe ich im zitierten Brandschutzartikel die Möglichkeit aufgezeigt, virtuelle Stäbe einzuführen, entsprechend dem Motto: „Move information – not people”. Und ich stellte die Frage, ob diese Vision wohl Realität wird? Bis heute kann ich leider keine Anzeichen für eine Annäherung an diese Vision erkennen. (siehe z. B. die Vielzahl an Stabsmitglieder, die während des Elbahochwassers 2013 nach Ostdeutschland reisten und dort wichtige Ressourcen {z. B. Räume, Verpflegung, Treibstoff} verbrauchten). Extrapoliert man diese entmutigende Erkenntnis auf die Vision eines Computer-aided Führungsstabes so könnte man pessimistisch in die Zukunft blicken. Ich bin aber ein unverbesserlicher Optimist. Ich bin fest davon überzeugt, dass die heutige Stabsarbeit, die sich ja nur unwesentlich von der des 19. Jahrhundert unterscheidet, schon bald der Vergangenheit angehören wird.

Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass der Bevölkerungsschutz in Deutschland nicht die letzte Bastion sein wird, die auf die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz verzichtet!

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