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Ist die FwDV/DV 100 im Zeitalter der Spontanhelfer noch zeitgemäß?

Andreas H. Karsten

(Erstveröffentlichung: August 2014, überarbeitet Juli 2019)

Das streng hierarchische Führungssystem der FwDV/DV 100 mit dem Befehl-und-Gehorsam-Prinzip scheint unversöhnlich mit den Prinzipien von Spontanhelfern zu sein. Im Bevölkerungsschutz startet eine Debatte, die die militärischen Führungstheoretiker vor nicht allzu langer Zeit im Zusammenhang mit dem Comprehensive Approach und der Einbindung von NGOs während des Afghanistan Krieges auch geführt haben: ”Lassen sich – und wenn ja wie – dezentrale, nicht hierarchische Entitäten in ein zentralisiertes, hierarchisches System integrieren?”

Das Führungssystem der FwDV/DV 100

Die FwDV/DV 100 gibt ein hierarchisches Führungssystem vor.

Eine Führungskraft steht an der Spitze des gesamten Systems. Sie trägt die Verantwortung für den Einsatz und ist die Entscheiderin. Je nach Einsatzlage (Art der Schäden, Größe des Schadensgebietes, eingesetzte Kräfte usw.) ordnet sie den Raum: sie etabliert nach räumlichen Gesichtspunkten bzw. Aufgabenverteilungen mehrere Abschnitte. Diese werden wiederum von unterstellten Führungskräften geführt. Diesen Führungskräften wird von der vorgesetzten Führungskraft Aufgaben übertragen und Ressourcen zugeordnet. Die unterstellten Führungskräfte können nun wiederum, ihre Aufgaben weiter unterteilen und Unterabschnitte einrichten. Jede Führungskraft hat maximal eine übergeordnete Führungskraft und kann bei ihren Aufgaben durch Stäbe unterstützt werden. Während des Einsatzes erteilen die übergeordneten Führungskräfte den unterstellten Aufträge (Befehle) und die unterstellten berichten den übergeordneten (Lagemeldungen). Die Kommunikation erfolgt also entsprechend den Organisationslinien der so genannten ”Führungsharke”.

Die Realität eines Einsatzes

Die Analyse der letzten großen Einsätze im Bevölkerungsschutz offenbart, dass es bei der Umsetzung der FwDV/DV 100 immer wieder zu teilweise erheblichen Schwierigkeiten kommt. So war manch Einsatz bereits vorbei, bevor das Führungssystem in Gänze etabliert werden konnte. Auch kommen immer wieder Führungsfehler einzelner Führungskräfte vor. Beides soll aber nicht Gegenstand dieser Diskussion sein. Selbst wenn die FwDV/DV 100 vollständig und fehlerfrei umgesetzt wurde, sieht die Realität komplizierter als die Dienstvorschrift es vorgibt. Dies liegt daran, dass bei den meisten Einsätzen nicht nur die operativ-taktische Einheiten des Bevölkerungsschutzes tätig werden, sondern auch der Verwaltungsstab mit seiner eigenen Führungsstruktur. Dieser ist die oberste Spitze der besonderen Aufbauorganisation der Kreis- oder Stadtverwaltung. Daneben existieren weitere Führungssysteme der Polizei, der Bundeswehr und evtl. andere. Also haben wir es im Bevölkerungsschutz mit mehreren parallel existierenden, unterschiedlich strukturierten und unabhängigen Führungssysteme zu tun.

Da die verschiedenen Entitäten in der Regel nicht unabhängig voneinander arbeiten können, wenn sie erfolgreich sein wollen, wird die Kommunikation zwischen Ihnen mittels Verbindungspersonen sichergestellt. (Dies ist der entscheidende Unterschied zu den Führungssystemen mit einer ”Gemeinsamen (joint, combined) Führung” wie sie z. B. in den Niederlanden, dem Vereinigtem Königreich und den USA angewendet werden). Die Kommunikation erfolgen in jeder Entität entsprechend dem oben erwähnten Prinzip entlang der Organisationslinien bis zu einer Stelle, an der Verbindungspersonen ausgetauscht sind. An diesen Stellen wechselt die Information von einer Entität zu der anderen. In realen Einsätzen werden aber auch an anderen Stellen Informationen mit oder ohne Duldung der Vorgesetzten ausgetauscht. Die Kommunikations- und somit die Abstimmungsstruktur entspricht somit eher einem Geflecht als eine Vielzahl von Harken. (Zur Vertiefung des theoretischen Backgrounds siehe Henri Fayol).

Power to the Edge

David S. Alberts und Richard E. Hayes unterteilen Führungssysteme in ihrer Arbeit ”Power to the Edge – Militärische Führung im Informationszeitalter” (die deutsche Übersetzung kann unter www.luftwaffe.de/ kostenlos downgeloadet werden) nach folgenden Kriterien:

# Verteilung des Rechts auf Entscheidung im Kollektiv

# Art der Zusammenarbeit der Entitäten

# Informationsverteilung an die Entitäten

Je nach Ausprägung dieser Parameter können Führungssysteme bestehend aus verschiedenen Entitäten in vier Bereiche einsortiert werden:

  • von einander unabhängig agierend
  • kooperierend agierend
  • kollaborierend agierend
  • ”Edge”

Wie lässt sich nun die FwDV/DV 100 in dieses Schema einordnen? Zwei Gesichtspunkte sind dabei entscheidend: zum einen fordert die FwDV/DV 100 das mit Auftrag zu führen ist und zum anderen arbeiten im Bevölkerungsschutz seit jeher unterschiedliche Entitäten (Feuerwehr,THW, Hilfsorganisationen,…) zusammen. Der bundesdeutsche Bevölkerungsschutz schreibt seit der Einführung der FwDV/DV 100 im Jahre 1999 also eine kollaborative Führung vor. Der einzige Parameter, der infrage gestellt werden könnte, ist die Verteilung des Rechts auf Entscheidung im Kollektiv. Dieser Parameter ist bei den Führungssystemen einer ”Gemeinsamen Führung” stärker ausgeprägt. An dieser Stelle ist anzumerken, dass mit der Einführung des Verwaltungsstabes, in dem mehreren Behörden vertreten sind, ein erster Schritt in Richtung einer ”Gemeinsamen Führung” beschritten wurde.

Ob die Ideen von Ori Brafman und Rod A. Beckstrom von ”führungslosen” Organisationen (Brafman, Beckstrom; The Starfish & the Spider; The Penguin Group, NY 2006) innerhalb oder ausserhalb der ”edge” liegen, soll hier nicht vertieft werden. Ihre Ideen sind es aber wert zu lesen, nicht nur um sein theoretisches Hingrundwissen im Bereich der Führungstheorie zur vertiefen, sondern auch um eine Reihe erfolgreicher Beispiele dezentralisierter Führungssysteme kennenzulernen.

Und was ist nun mit den Spontanhelfern?

Wagt man den Schritt zur ”Edge”, sind Spontanhelfer – übrigens wie private Unternehmen – in Führungssysteme – zumindest theoretisch – mühelos zu integrieren.

Wie muss die FwDV/DV 100 geändert werden, um diesen Schritt zu gehen? Gar nicht! 


Der Punkt 2.3.2 ”Auftragstaktik als Führungskonzeption” muss nur entsprechend interpretiert werden.  Zitat: ”Auftragstaktik ist eine Führungskonzeption, die den [staatlichen und nichtstaatlichen] Einsatzkräften [Katastrophenschutzeinheiten, Polizeien, NGOs, Bürgern, Unternehmen,…] möglichst viel Freiraum bei der Auftragserfüllung lässt.” (in den eckigen Klammern stehen Einfügungen von mir). Die FwDV/DV 100 verbietet an keiner Stelle, ”externe” Entitäten einzubinden; und die Feuerwehr- und Katastrophenschutzgesetze der Länder sehen diese Möglichkeit sogar vor. Ohne Änderung der FwDV/DV 100 können Spontanhelfer in die staatliche Gefahrenabwehr integriert werden. Lediglich das Verständnis für die FwDV/DV 100 unter den Führungskräften ist zu verbessern. Und dies ist wiederum eine Frage der Aus- und Fortbildung.

Abschließend möchte ich noch auf eine – vermutlich die – entscheidende Voraussetzung für Führen mit Auftrag im Allgemeinen und die Integration von Spontanhelfern im Speziellen hinweisen: 

Vertrauen.
Vertrauen der staatlichen Behörden in die Spontanhelfer und umgekehrt. Und Vertrauen bei anderen Menschen baut man auf, in dem man zuerst diesen anderen Menschen Vertrauen entgegenbringt.

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