(Erstveröffentlichung: Mai 2015, leicht korrigiert)
Einleitung
In den letzten Jahren traten als Katastrophenhelfer zwei neuartige Gruppen in Erscheinung:
- Spontanhelfer und
- Volunteer & Technical Communities (V&TCs)
Zur Kommunikation nutzen beide Gruppen im Wesentlichen die Social Media. Binden die Bevölkerungsschutzbehörden diese Gruppen nicht in ihre Gefahrenabwehr ein, verzichten sie auf wertvolle Ressourcen.
Vorbemerkung
Die Entwicklung der Hilfe durch diese Gruppen wird durch eine Reihe von Ereignissen deutlich:
- Erdbeben Haiti 2010
- Erdbeben in Chile 2010
- Erdbeben in Christchurch 2010 und 2011
- Überflutungen Queensland und Viktoria, Australien 2011
- Zyklon Yasi, Australien 2011
- The Great East Japan Erdbeben 2011
- Hurricane Sandy 2012
- Flutkatastrophe in Deutschland 2013
- Taifun Haiyan 2013
Nutzung von Social Media in Katastrophen
In den folgenden Bereichen wurden Social Media im Wesentlichen genutzt:
- Information und Warnung der Bevölkerung
- Absetzen von Hilfeersuchen bei Überlastung der Notrufleitungen
- Informationsgewinnung durch „Menschliche Sensoren“
- Organisation der Spontanhilfe
- Monitoring der Bevölkerungsreaktionen
- Post Disaster Assessment
Im Folgenden soll die Nutzung der V&TCs und der Social Media zur Entscheidungsunterstützung diskutiert werden.
Führungsvorgang
Die FwDV/DV 100 teilt den Führungsvorgang in vier Bereiche ein:
- Lagefeststellung
- Lagebeurteilung
- Entschluss
- Befehl
Bei der Lagefeststellung und -beurteilung bieten die V&TCs und die Social Media neue Möglichkeiten, um bessere Entscheidung treffen zu können. Die eigentliche Entscheidung allerdings verbleibt bei der Einsatzleiterin. Diese Aufgabe ist nicht delegierbar.
Grundlage einer guten Entscheidung ist ein richtiges Situationsbewusstsein. Dazu sind die vorhandenen Informationen richtig zu interpretieren und damit gute Prognosen und Einsatzoptionen zu entwickeln.
Die Vor- und Nachteile einer jeden Einsatzoption sind von der Einsatzleiterin bei Ihrer Entscheidung abzuwägen.
Nutzung von V&TCs and Social Media zur Lagefeststellung
Mittels Smartphones können heute Unmengen an Informationen aus dem Schadengebiet in Echtzeit den Entscheidungsträgern (und den Medien sowie der Bevölkerung) zur Verfügung gestellt werden:
- schriftliche Berichte
- mittels SMS
- mittels Internetplattformen von Behörden, Organisationen
- Wikis
- Social Media (Twitter, Facebook,…)
- Bilder, Filme (Instagram, YouTube,…)
- Daten (radiologische Messungen,…)
- genaue Ortsangaben
Besonders die genaue Ortsangabe unterstützt die Lagefeststellung in vorher nicht gekannter Weise.
Der erzeugte Datenoverflow kann mittels technischer Tools oder der V&TCs (z. B. VOST) überwunden werden. Falschmeldungen konnten bisher immer schnell identifiziert und korrigiert werden (z. B. mittels dem hashtag „Mythbuster” der Queensland Police in Australien).
Die Lagefeststellung ist Aufgabe des S2 im Führungsstab. Das der S2 das Web 2.0 nutzt, dürfte heute von der Mehrheit von Bevölkerungsschützern befürwortet werden.
Verbesserung der Lagebeurteilung durch Crowdsourcing
Die wesentliche intellektuelle Tätigkeit bei der Entscheidungsfindung ist die Beurteilung der Situation und die Analyse der Vor- und Nachteile von Einsatzoptionen. Dies ist die Aufgabe des S3 im Führungsstab. Er bedient sich dazu einer Reihe von Informationsquellen: Fachberater, Verbindungspersonen, Berater von TUIS, Gefahrgutdatenbanken und einige mehr. Diese Informationsquellen sind fehlerbehaftet. Und oft kann der S3 nur schwer abschätzen, inwieweit sie verlässlich sind. Grundsätzlich besteht also kein Unterschied zwischen den bisherigen Vorgehen und einer Lagebeurteilung unter Einbeziehung von Crowdsourcing-Ergebnissen. Der große Unterschied besteht nur darin, dass uns die Crowd – noch ? – so unbekannt ist. Während wir seit unserer Geburt gelernt haben, Menschen einzuschätzen, wenn wir ihnen gegenüberstehen, fehlt uns diese Fähigkeit bezüglich der Crowd. Aber warum sollte man Probleme auch bei der Gefahrenabwehr nicht im Netz diskutieren lassen und die Vorschläge der Experten sowie der Laien aus der gesamten Welt in seine Analyse einbeziehen?
Auf eins möchte ich ausdrücklich hinweisen: verantwortlich für das Ergebnis der Lagebeurteilung bleibt immer der S3. Ein Abschieben auf Fachberater oder die Crowd ist nicht möglich.
Bei der Einsatzvorbereitung nutzen heute schon viele spezielle Social Media Netzwerke wie z. B. LinkedIn. Und manche diskutieren Einsatzprobleme in geschlossenen Gruppen mit ihren „Freunden”. Warum also nicht den nächsten Schritt gehen und die Diskussionen offen führen?
Welche Gefahren ein solches Croudsourcing mit sich bringen kann, zeigte – in einem anderen Feld – die Täterverfolgung nach den Bombenanschlägen in Boston. Bei der Nutzung der Crowd muss der S3 besonderen Wert auf den Schutz der Betroffenen legen. Wie diese besonderen Art des Datenschutzes und das Potential der Crowd, die möglichst offene Daten benötigt, vereinbart werden können, ist derzeit noch unbefriedigend gelöst.
Social Media als Kommunikationskanal
Über die Nutzung der Social Media zur Bevölkerungsinformation wurde schon vielfach geschrieben. Aber sie können auch zur Warnung oder Befehls- und Auftragsübermittlung verwendet werden. Ist das Funk- und Mobiltelefonnetz ausgefallen, sollte der S6 auch mal an die Social Media denken. Es zeigte sich während mehrere Katastrophen, dass es möglich war, länger mittels SMS oder Social Media zu kommunizieren als über die Sprachfunktion des Mobiltelefonnetzes.
Möchten die Bevölkerungsschutzbehörden die modernen Kommunikationskanäle nutzen, müssen sie die Informations- und Interpretationshoheit besitzen. Dazu müssen sie sich frühzeitig im Netz an Diskussionen beteiligen.
Monitoring der Einsatzmassnahmen
Wichtig bei der Einsatzdurchführung und der Planung der folgenden Einsatzperioden ist es zu wissen, wie die Einsatzmassnahmen greifen und wie die Bevölkerung – betroffene wie die nicht betroffene – auf die Einsatzmassnahmen reagiert. Hier bieten die Social Media eine einzigartige Echtzeit-Informationsquelle, auf die auf keinen Fall zu verzichten ist.
Herausforderung Realtime
Viele Katastrophen zeichnen sich heute durch eine hohe Dynamik und Vernetzung (speziell auch der kritischen Infrastrukturen) aus. Hinzu kommt, dass wir uns heute Schadenlagen gegenübersehen, die wir im Vorfeld nicht bedacht haben oder bedenken konnten (known unknowns, knowable unknowns und unknown unknowns). Daraus folgt, dass alte Lösungsansätze nicht mehr erfolgreich sind.
Für den Führungsstab bedeutet dies, dass während des laufenden Einsatzes die Massnahmen analysiert, aus den Ergebnissen gelernt und neue Einsatzregeln entwickelt werden müssen – eigentlich Tätigkeiten der Einsatznachbesprechung. Die Schlagworte hier sind Real-Time-Assessment, Real-Time-Learning und Real-Time-Optimization. Dies ist nur möglich, wenn die einzelnen Arbeitsschritte parallel durchlaufen werden. Auch dies ist ohne die Unterstützung von V&TCs nur schwer möglich.
Fazit
Sie mögen jetzt vielleicht sagen, dass Ihnen das Risiko, die Crowd aktiv in die Gefahrenabwehr einzubinden, zu hoch ist. Aber kennen Sie ein Negativbeispiel bei den ersten zaghaften Versuchen, die einige Behörden unternommen haben? Wir müssen sicherlich noch viel lernen. Aber vor allem müssen wir Vertrauen aufbauen. Vertrauen ist das A und O.
Erste Untersuchungen zeigen, dass die Masse der Nutzer einen regulierenden Einfluss ausübt (Grundprinzip von z. B. Wikipedia oder eBay). Trotz der Gefahren der Manipulation durch die Social Media ist deren Nutzung durch die Gefahrenabwehrbehörden meines Erachtens unabdingbar.
Lernen wir also mit den Social Media umzugehen.